V. Groebner u.a.: Wilhelm Tell, Import-Export

Cover
Titel
Wilhelm Tell, Import-Export. Ein Held unterwegs


Autor(en)
Blatter, Michael; Valentin, Groebner
Erschienen
Baden 2016: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
149 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Klaus Oschema, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Wie auf einem fliegenden Teppich ist er unterwegs, dieser Held – und er ist ein Held, weil er wandelbar ist, den Namen wechseln kann, Regeln bricht (S. 57– 58). Seine Geschichte «funktioniert», weil sie «biegsam» und «flexibel» ist (S. 62). Solchermassen narrativ ausgerichtet, leiten Michael Blatter und Valentin Groebner ihre Leserschaft durch ihre eigene Tell-Erzählung: vom ersten Aufscheinen des Apfelschusses im skandinavischen 12. Jahrhundert (oder anderer Meisterschüsse in persischen Erzählungen etwa derselben Zeit) über die kreative Leistung des Obwaldner Landschreibers Hans Schribner, der Tell um 1470 als Gründungsfigur zu Pergament bringt, bis zu Max Frischs zynisch-ironischen Bemerkungen zum Wilhelm Tell für die Schule. Dabei spüren die Autoren nicht nur der Ambivalenz dieses erzählten und inszenierten Helden nach, dessen Taten zwischen den Polen anarchischer Gewalt und gerecht-freiheitsliebender Auflehnung gegen die Tyrannis changieren, sondern weiten auch den geographischen Blick weit über die Grenzen der heutigen Schweiz hinaus.

Schon innerhalb der Eidgenossenschaft, so machen die Episoden der Frühen Neuzeit deutlich, konnte Tells Geschichte keine Eindeutigkeit gewinnen: Zu sehr divergierten bereits die politischen Interessen innerhalb der weithin wirksamen Luzerner Chronistik zwischen den pro-österreichischen und pro-französischen Parteiungen, in deren jeweiligem Umfeld (der jüngere) Diebold Schilling und Petermann Etterlin schrieben (S. 41–50). Nur wenige Jahrzehnte später wird Wilhelm Tell in den Spannungen zwischen der an adligen Lebensformen sowie herrschaftlicher Ordnung interessierten Luzerner Obrigkeit und den Untertanen im Entlebuch endgültig zu einer Figur, die gänzlich gegensätzliche Positionen markieren kann (S. 76–82): Im Konflikt mit aufständischen Bewegungen soll die Richtung der Erzählung gewaltsam korrigiert werden, nötigenfalls durch die Verbrennung von Drucken, die eine aufrührerische Lesart verbreiten (S. 85–86).

Im Parforceritt führen die Autoren süffig erzählt durch die Jahrhunderte und Länder. Aufbauen können sie dabei auf den Vorarbeiten Bernhard Stettlers, Guy Marchals, Jean-François Bergiers und anderer. Grundsätzlich neue Sachinformationen wollen sie gar nicht beitragen, wohl aber die Dinge auf eingängige Weise in eine neue Perspektive rücken. Dies gelingt ihnen ganz hervorragend, von den einzelnen Vignetten, etwa zum Weissen Buch von Sarnen und seinen Entstehungsumständen (S. 18–35), bis hin zum mitreissenden Erzählverlauf. Nicht immer wird jeder das moderniserende Vokabular goutieren («Grounding», S. 101; die Luzerner Chronisten um 1500 als «Public-Relations-Spezialisten», S. 46) und manches Bild mag zumindest nicht ganz stimmig sein, etwa der mehrfach bemühte «fliegende Teppich». Diese Schwächen, zu denen auch ein irreführender Bildverweis (S. 111) zählt, sollten aber den Wert des Büchleins nicht verdecken, der sich im (fast) abschliessenden Kapitel zur Frage nach dem «Historische[n] im Ursprung» nochmals entfaltet (S. 116–127): Historische Traditionen treten als Erzählungen auf – und Erzählen ist eben alles andere als eine harmlose Tätigkeit. Wenn es aber die Erzählungen sind, die uns mit dem «Ursprung» verbinden, so ist dieser gerade «kein Ort, an den man zurückgehen könnte» (S. 123).

Mit ihrem Wilhelm Tell haben Michael Blatter und Valentin Groebner eine eingängige Darstellung zu einer viel strapazierten Figur vorgelegt, die einem breiteren Publikum ihren Helden als schillernde, erfolgreiche und dabei doch problematische Figur präsentiert. Der Band ist hervorgegangen aus einem Vortrag, den die Autoren 2014 im Schweizerischen Nationalmuseum gehalten haben, und er hat die Stärken der Präsentation bewahrt. Mitreissend und effektvoll konstruiert, erzählen die Autoren eine widerspenstige Geschichte, die in Untiefen führt und dabei zugleich weit über die Titelfigur hinaus Bedenkenswertes zum interessegeleiteten Umgang mit Geschichte vermittelt. Und erst wenn man den schmalen Band aus der Hand legt, fällt einem auf, dass eine Frage eigentlich gar keine Rolle mehr spielt – ob es ihn denn nun eigentlich wirklich gegeben haben könnte …

Zitierweise:
Klaus Oschema, Tobias Hodel: Rezension zu: Michael Blatter, Valentin Groebner, Wilhelm Tell. Import – Export. Ein Held unterwegs, Baden: Hier und Jetzt, 2016. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 470-471.

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Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 470-471.

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